Richtungsvielfalt innerhalb des Islam

Karamat.eu - Im Rahmen unserer Arbeit an wissenschaftlichen Themen, trägt dieser Beitrag des Religionswissenschaftlers Peter Antes zur besseren Differenzierung des Sammelbegriffs Islam bei. Der Beitrag ist in einem Sammelband zum Religionspädagogischen Kongress 2016 des ANR in Goslar veröffentlicht worden [braunschweiger beiträge zur religionspädagogik 147 (1/2016) S. 3-7]. In dem Beitrag geht Prof. Antes auch auf die Forschungsergebnisse von Dr. Seyed M. Azmayesh zu zwei Versionen von Islam ein.

Prof. Peter Antes

Richtungsvielfalt innerhalb des Islam

Die Medien und die öffentliche Diskussion in Deutschland sprechen gern vom Islam, als handele es sich dabei um einen einheitlichen Block der Koranauslegung und religiösen Lebenswirklichkeit. In Wirklichkeit aber ist der Islam intern mindestens so facettenreich wie das Christentum oder das Judentum. Dabei ist eine traditionelle Richtungsvielfalt von einer aktuellen zu unterscheiden. Deshalb soll im Folgenden zunächst die traditionelle Richtungsvielfalt und dann in einem zweiten Schritt die aktuelle dargestellt werden.

Die traditionelle Richtungsvielfalt

Gleich nach dem Tode des Propheten Mohammed (632 u.Z.) setzte eine Debatte ein, wie die von Mohammed gegründete Gemeinschaft (umma) weitergeführt werden und wer sie leiten solle. Sehr rasch folgte Abu Bakr als Nachfolger (arab.: Khalifa, eingedeutscht: Kalif) im Amt der Leitung der umma. Ihm folgten als Kalifen 634 Umar, 644 Uthman und 656 Ali. Dabei kam ein jeder dieser „vier rechtgeleiteten Kalifen“ auf jeweils andere Weise an die Macht, so dass bezogen auf die Anfangszeit der islamischen umma kein allgemein gültiges Prinzip für die Wahl eines Kalifen erkennbar ist.

Schiiten

Zu einem richtigen Streit über die Wahl kam es nach dem Tode Alis (661 u.Z.), als Mu’awiya das erbliche Kalifat der Umayyaden einführte und dadurch in Widerspruch zu den Anhängern Alis geriet, die für Alis Sohn Hassan und nach dessen Tod (669 u.Z.) für dessen Bruder Husein als Kalifen eintraten. Der Streit trug bald auch theologische Züge, weil die Parteigänger des Ali, die shi’a 'Ali, also die Schiiten, glaubten, dass der Führer der umma – sie nennen ihn Imam (nicht zu verwechseln mit dem Leiter des Gebetes in der Moschee!) – aus der Familie des Propheten stammen müsse, da nur diese Linie neben der Leitungsfunktion (Kalifat) der umma auch noch eine Rechtleitungsfunktion innehabe, die garantiere, dass er wie Mohammed selbst in seinen Entscheidungen direkt von Gott inspirierte Weisungen geben könne, was für keinen anderen Leiter der umma aus Mohammeds Stamm der Koreisch aus Mekka zutrifft. Deshalb lehnten die Schiiten die Umayyadenkalifen ab und warfen ihnen vor, Usurpatoren der Macht und damit illegitim zu sein, während eine ganz andere Gruppe beide Herrschaftsansprüche ablehnte und sagte, es komme allein auf die moralischen und kriegerischen Qualitäten des Kalifen an, „selbst wenn es ein abessinischer Sklave wäre“. Da sich diese Meinung nicht durchsetzen konnte, zogen diese aus der umma aus und werden deshalb die „Ausscheidenden“ (Kharidjiten) genannt. Sie spielen in der weiteren Geschichte des Islam kaum noch eine Rolle. Im Gegensatz dazu sind die Schiiten bis heute präsent und zählen etwa ein Zehntel der Muslime weltweit als ihre Anhänger.

Zum offenen Konflikt zwischen der Mehrheit, die sich mit den Gegebenheiten abfand und die Umayyaden-Dynastie akzeptierte (=Sunniten), und den Schiiten kam es 680, als Alis zweiter Sohn Husein mit seinen Getreuen gegen den Umayyadenkalifen Yazid I. (680-683) in den Krieg zog und bei Kerbela (Irak) in einen Hinterhalt geriet und starb. Seines Todes (Martyriums) gedenken die Schiiten bis heute am 10. Tag (Ashura) des Trauermonats Muharram mit Trauerfeiern, die auch Passionsspiele mit Selbstgeißelungen beinhalten.

Weder Huseins Kampf gegen Yazid I. noch viele weitere Umsturzversuche und Widerstandskämpfe verhalfen den Schiiten zum Sieg über die Sunniten. Außer Ali hat es kein Imam der Schiiten mehr geschafft, Kalif zu werden. Lediglich regional kamen bisweilen schiitische Herrscher an die Macht wie etwa die Karmaten im 9. und 10. Jahrhundert in Persien oder die Fatimiden (973-1071) in Ägypten bzw. die Zwölferschiiten seit 1501 in Iran.   

Streit gab es aber auch unter den Schiiten bezogen auf die Nachfolgereihe der Imame. Drei große Spaltungen innerhalb der Schiiten sind bis heute wichtig: die Nachfolge als 5. Imam, wodurch sich die Anhänger Zaids (Zaiditen oder Fünferschiiten) vom schiitischen Mainstream abspalteten und eigene Herrschaftsgebiete anstrebten (z.B. im Yemen); die Nachfolge als 7. Imam, wodurch sich die Anhänger Ismails (Ismailiten oder Siebenerschiiten) vom Mainstream der Schiiten mit 12 Imamen (Zwölferschiiten oder Imamiten) abspalteten. Der Hinweis auf die 12 Imame zeigt, dass die Linie der Imame nicht bis heute fortgesetzt wird, sondern der 12. Imam seit 873/4 „entrückt“ fortlebt und irgendwann in der Zukunft als Mahdi zurückerwartet und den Endsieg über die Sunniten herbeiführen wird. Während seiner Abwesenheit wird die Gemeinschaft der Zwölferschiiten durch hohe Geistliche geführt, die man neuerdings „Zeichen Gottes“ (Ayat Allah, kontrahiert: Ayatollah) nennt und von denen es immer einer geschafft hat, von allen als oberster Führer anerkannt zu werden.

Der kurze Blick in die islamische Geschichte zeigt, dass die Schiiten meist die Verlierer in den sunnitsch-schiitischen Auseinandersetzungen waren und nur dort Macht erringen konnten, wo die sunnitische Zentralmacht schwach war, d.h. vorwiegend in Randgebieten oder unzugänglichen Bergregionen des Herrschaftsgebietes des Islam.

Die Erfahrung der Unterlegenheit hat sich auch inhaltlich für die Schiiten ausgewirkt. Sie betrachten sich als eine moralische Elite, die einer machtbesessenen Mehrheit ausgeliefert ist. Sie sind skeptisch gegenüber den Herrschern im Lande und sehen in diesen Usurpatoren der Macht, an deren Sturz sie im Laufe der Geschichte vielfach beteiligt waren, was Misstrauen gegenüber den Schiiten unter der sunnitischen Bevölkerung erzeugt und sie nicht selten unter den Verdacht stellt, Sympathisanten, wenn nicht sogar Steigbügelhalter des Politterrors zu sein. Die Ohnmacht und das Scheitern, das Kalifat zu erlangen, haben dazu geführt, dass theologisch die menschliche Handlungsfreiheit betont wird, die Gott so sehr respektiert, dass er das eigentlich von ihm nicht Gewollte zulässt. Von daher spielen Passion und Martyrium eine sehr große Rolle und die Symbolik ist eher die des Leidens und des Scheiterns als eine des Sieges wie im sunnitischen Islam. Hinzu kommt, dass immer wieder politische wie religiöse Richtungen, die innerhalb des sunnitischen Islam verfolgt werden, unter den  Schiiten weiterleben.

Zu den Besonderheiten des schiitischen Bekenntnisses gehört die Formel „Ali ist der Freund Gottes“, die Schiiten gerne dem Glaubensbekenntnis: „Ich bezeuge, es gibt keine Gottheit außer Gott; ich bezeuge, Mohammed ist der Gesandte Gottes“ hinzufügen. Weiter gehört dazu die Verpflichtung, in Situationen der Verfolgung um des Glaubens willen den Glauben zu verleugnen. Diese Aufforderung zur öffentlichen Glaubensverleugnung unter Bewahrung des wahren Glaubens im Herzen (arab.: takiyya,, pers.: ketmân) ist den Gegnern nicht verborgen geblieben und hat dazu geführt, dass man die Aussagen der Schiiten oft nicht für glaubwürdig hält und deren Verleugnung des Glaubens sie nicht vor Anschuldigungen bewahrt, Schiiten zu sein, im Gegenteil, gerade die Verleugnung des Glaubens als einen Beweis für die Zugehörigkeit zu dieser Form des Muslimseins ansieht. Tausende sind so durch die Geschichte hindurch als Schiiten umgebracht worden, ohne dass klar ist, ob sie Schiiten waren.

Die Aufzählung von Fünfer-, Siebener- und Zwölferschiiten nennt nur die großen Richtungen aus der Vielfalt der Schiiten. Weitere Spaltungen intern wie von Gruppen, die sich den Schiiten anschlossen oder unter deren Schutz stellten, wären zu nennen, würden aber den Rahmen hier deutlich sprengen. Erwähnt sie hier nur noch der mystische Islam (Sufismus), dessen unterschiedliche Richtungen teils den Schiiten, teils den Sunniten zuzuordnen sind.   

Sunnitische Rechtsschulen

Der sunnitische Islam ist ebenfalls kein monolithischer Block, denn bei den Sunniten sind in mindestens vier Rechtsschulen zu unterscheiden. Der Grund dafür liegt in den Anfängen der umma. Sie entstand mit der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina 622 u.Z. Jede arabische Textausgabe des Koran wie manche Übersetzungen (z.B. die Reclam-Ausgabe oder die Übersetzung von Paret) ordnen die Offenbarungen, die in unterschiedlich langen Textstücken (Suren, 114 an der Zahl) im Koran gesammelt sind, den beiden Verkündigungsphasen in Mekka (ca. 610-622) und Medina (622-632) zu. Danach ist von der umma in der mekkanischen Phase noch keine Rede. Die zentralen Aussagen in Mekka sind das kompromisslose Eintreten für den Monotheismus mit der Betonung der glaubensmäßigen Übereinstimmung mit Juden und Christen in diesem Punkt (vgl. Koran 29,46) und die Verantwortung des Menschen, also von Mann und Frau, für das eigene Tun über den Tod hinaus in einem Gericht, in dem jedes Stäubchen an Gutem und jedes Stäubchen an Bösem auf die Waagschale gelegt wird (vgl. Koran 99,7-8) und ausschlaggebend ist für das ewige Schicksal: Paradies oder Hölle, wobei durch Gottes Barmherzigkeit Gnade vor Recht ergehen kann. In Medina liegt der Schwerpunkt der Aussagen auf Anweisungen für das konkrete Verhalten in der umma. Hier kommt es zur Etablierung des Islam als religiös-politisches Gemeinschaftswesen und damit zum Islam als Bezeichnung für eine Religion. Hier werden die sogenannten Hadd-Strafen wie Auspeitschen für Ehebruch und Handabhacken für Diebstahl verkündet. Zudem wird Frauen das Recht zugesprochen, als Zeuginnen vor Gericht wie als Erbinnen aufzutreten, wobei alles nur halb soviel gilt wie für einen Mann an ihrer Stelle. Auch Regeln des Anstandes wie Grüßen und Betreten eines Hauses finden sich unter den Versen. Summa summarum lässt sich daher sagen, dass der Tendenz nach hier alle Bereiche des alltäglichen Lebens berührt werden.

Nach dem Tode Mohammeds muss die sich rasch ausbreitende und über die Arabische Halbinsel hinausreichende umma immer wieder neue Fragen beantworten, wofür die inzwischen gesammelten und schriftlich festgehaltenen Verse des Koran keine ausreichende Basis bieten. Neue Rechtsquellen sind daher erforderlich, um hierfür eine einleuchtende Antwort zu haben, zumal die schiitische Lösung durch einen Imam unter sunnitischer Herrschaft nicht in Frage kam. Was man wollte, war – um es jüdisch zu sagen – eine Art Halacha, arabisch: Sharia [eingedeutscht: Scharia], aus der man systematisch Antwort auf alle sich neu stellenden Fragen geben kann. Um dieses Ziel zu erreichen, sammelte man zunächst Aussprüche (Hadithe) des Propheten Mohammed, die er gewissermaßen als Privatmann äußerte, wenn er keine Offenbarungen vortrug. Zudem dienten seine Verhaltensgewohnheiten (sunna) als Vorbild, wenn er beispielsweise billigend oder missbilligend irgendwo dabei war. Hadith und Sunna waren aber bald hinsichtlich ihres Aussagewertes begrenzt, so dass neue Rechtsquellen erschlossen werden mussten. Der Gelehrtenkonsens und der Analogieschluss wurden zusätzlich hinzu genommen und man griff auch auf lokale Moral- und Rechtsvorstellungen zurück, so dass aus diesem Gemisch von Koranischem und Nichtkoranischem, ja aus Islamischem und Außerislamischem ein Gesamtwerk entstand, das es möglich machte, als System zur systematischen Beantwortung aller neu auftauchenden Fragen zu dienen. Besonders vier Systematisierungen sind auf diese Weise entstanden, die bis heute Gültigkeit haben: die Rechtsschulen des rigorosen, konservativen Ibn Hanbal (gest. 855 u. Z.; Hauptverbreitungsgebiet: Saudi-Arabien, Libanon, Syrien), der etwas liberaleren Abu Hanifa (gest. 767 u. Z.; Hauptverbreitungsgebiet: Jordanien, Türkei, Afghanistan, Pakistan, Indien, Turkvölker der ehemaligen Sowjetunion, China und Indochina) und Malik (gest. 798 u. Z.; Hauptverbreitungsgebiet: Marokko, Algerien, Tunesien, Sudan, Kuweit, Bahrain)  sowie des liberalen Schafi’i (gest. 845 u.Z.; Hauptverbreitungsgebiet: Ägypten, Palästina, Libanon, Saudi-Arabien, Jemen, Irak und Indonesien). Sie sind unterschiedlich hinsichtlich der Zulässigkeit von Neuerungen und in unterschiedlichen Weltgegenden vorherrschend, wobei durchaus auch mehrere Rechtsschulen, in die man hineingeboren wird, in einem Land vertreten sein können. Daraus ergeben sich bei Einzelfragen Unterschiede in den Grundsatzurteilen (Fatwas) und folglich ein differenziertes Bild dessen, was islamisch ist.

Die Unterschiede fallen heute nicht nur aus politischen Gründen mehr ins Gewicht als früher, sondern vor allem auch dadurch, dass seit der Abschaffung des Kalifats durch Atatürk im Jahre 1924 der sunnitische Islam kein gemeinsames Oberhaupt mehr hat, sondern die rechtlichen Entscheidungen auf die regionalen Entscheidungsinstanzen des Mufti zum Erlassen von Fatwas übergegangen sind, während die politischen Entscheidungen in die Hände der Staatschefs der betreffenden Länder gelegt worden sind.

Aktuelle Richtungsvielfalt

Neben der traditionellen Richtungsvielfalt im Islam gibt es heute noch eine aktuelle, die quer zu den bestehenden Gruppierungen von Sunniten und Schiiten verläuft. Sie hängt vor allem mit Auslegungsoptionen zusammen, die sich am Vorbildcharakter einzelner Phasen im frühen Islam orientieren. Insgesamt fünf Modelle sollen im Folgenden vorgestellt werden, wobei jeweils gezeigt wird, wo die Stärken und die Schwächen liegen, denn kein Modell ist ohne Schwächen.

Das radikalste Modell ist zweifellos das des sudanesischen Mystikers und Politikers Mahmud Muhammad Taha, der dafür 1985 als Häretiker hingerichtet wurde, was weltweite Reaktionen ausgelöst hat, die von Glückwunschschreiben bis zu massiver Verdammung reichen und die ganze Richtungsbandbreite innerhalb des Islam widerspiegeln. Taha vertritt die Ansicht, dass – wenn Mohammed mit seiner Botschaft in Mekka Erfolg gehabt hätte – es nie zum Islam von Medina gekommen wäre. Wie oben gesagt, war in der Botschaft von Mekka von der umma noch keine Rede, die Gemeinsamkeiten mit Juden und Christen im religiösen Bekenntnis wurden betont, Hadd-Strafen wie das Abhacken der Hände bei Diebstahl gab es noch nicht, und Mohammed – so kann man noch hinzufügen – lebte mit Khadidja monogam. Alles, was als Anpassungsproblem an die Erfordernisse der modernen Welt für den Islam heute diskutiert wird, ist somit erst in der medinensischen Phase der Verkündigung dazugekommen. Diese ist dann nach Taha eine sekundäre Botschaft, d.h. eine Anpassng der ersten mekkanischen Offenbarung an die Rahmenbedingungen einer patriarchalisch geprägten Beduinengesellschaft. Aus dieser Umsetzung der ersten Botschaft in eine zweite mit spezifischen Rahmenbedingungen kann man nach Taha viel für heute insofern lernen, als die moderne Welt mit ihren Rahmenbedingungen einen neuen Umsetzungsprozess der ersten Botschaft erforderlich macht, der wie bei der ersten bestimmte Veränderungen gebietet, die im Widerspruchsfall die Aussagen der medinensischen Verkündigung relativieren, wenn nicht ganz aufheben. Die Stärke dieser Position, die dann einen mit der Moderne vollständig in Einklang zu bringenden Islam zur Folge hat, liegt in der Betonung der Anfangsphase als der eigentlichen Botschaft Gottes an die Menschen; die Schwäche liegt zweifellos in einer starken Relativierung der Bedeutung der Botschaft aus der medinensischen Phase. In letzter Konsequenz ist dieser Interpretationsansatz mit dem säkularistischen Modell einer klaren Trennung von Religion und Staat im Sinne Atatürks bestens vereinbar, nur im Gegensatz zu diesem religiös, ja koranisch begründet.

Der neueste Versuch einer Klärung stammt von Dr. Seyed Mostafa Azmayesh. Er sieht in den medinensischen Suren eine Auseinandersetzung zwischen einem humanistischen Islam Mohammeds und einem Beduinenislam patriarchalisch gesinnter Konvertiten, die die eigentliche Botschaft – wie sie in der mekkanischen Verkündigung niedergelegt wurde – rückgängig machen und an ihre eigenen Stammesvorstellungen anpassen wollen.  Azmayeshs sehr subtile Untersuchungen relativieren bestimmte Aussagen aus der medinensischen Zeit dadurch, dass er sie als gegen Mohammeds Islamvision gerichtet deutet und ihnen von daher jede Verbindlichkeit nimmt, obwohl sie scheinbar von Mohammed so vorgetragen wurden, aber nicht seine Meinung, sondern die seiner Gegner wiedergeben. Folglich haben wir es mit zwei Sichtweisen des Islam und seiner Botschaft in den medinensischen Suren zu tun, die bisher immer nur als Ganzheit gesehen wurden und daher keine derart klare Scheidung in diese zwei Islame bewirkt haben. Die Stärke dieser Unterscheidung liegt darin, dass sie ausschließlich durch innerkoranische Argumentationen gestützt wird; als Schwäche kann man ansehen, dass – wenn dem so ist – es verwunderlich ist, dass erst Dr. Azmayesh dies entdeckt hat und alle anderen Koranausleger durch die Geschichte hindurch – von ganz wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – eine solche Unterscheidungsnotwendigkeit nicht erkannt haben.

Eine weitere Auslegung des Koran macht einen Unterschied zwischen zeitlich bedingten und ewig gültigen Aussagen im Koran. Forschungen zu den sogenannten Offenbarungsanlässen zeigen klar, dass die Verse des Koran nicht frei vom jeweiligen Kontext geoffenbart worden sind. Besonders deutlich wird dies in der Sure 9, wo die Aufforderung zum Töten der Ungläubigen als Ermunterung in nahezu trostlos aussichtsloser Lage gesehen werden kann und folglich nicht als allgemein gültige Botschaft zu gelten braucht, die alle anderen ihr entgegenstehenden Aussagen des Koran von der Barmherzigkeit Gottes aufheben würde. Die Unterscheidung hat als Stärke für sich, dass manch Störendes dadurch relativiert bis gegenstandslos wird; die Schwäche dieses Umganges mit dem Text liegt darin, dass nicht immer eindeutig festzustellen und zu sagen ist, welche Interpretation für einen bestimmten Koranvers die richtige ist, zumal der Koran als literarischer Text vielleicht gar nicht auf Eindeutigkeit hin angelegt ist. Zu Recht schreibt diesbezüglich Thomas Bauer: „Religiöse Texte nämlich, um die es uns hier zunächst gehen soll, stehen literarischen Texten weit näher als Sachtexten. Literarische Texte weisen aber eine ungleich höhere Ambiguitätsdichte auf als etwa Gebrauchsanweisungen. Vor allem aber ist ihre Ambiguität gewollt, ist doch Polyvalenz geradezu ein Definitionsmerkmal, das literarische Texte von Sachtexten unterscheidet. Die Frage, ob auch Mehrdeutigkeit religiöser Texte bewußt erstrebt und gewollt ist, sei dahingestellt (für den Koran ist sie, nach Meinung der meisten klassischen Gelehrten, definitiv zu bejahen).“

Andere Auslegungen des Koran halten an seinem Offenbarungswort als ganzem fest und lassen folglich keine Abschwächungen desselben durch Interpretation zu. Somit gilt der Text als in seiner Gänze geoffenbart und verbindlich, allerdings nur dieser und keine weiteren späteren Systematisierungen. Das klingt gut und überzeugend. Die Stärke dieser Position liegt im Offenbarungsverständnis und weist jeden Vers als verbindlich aus. Beruft man sich darauf jedoch ausschließlich, so hat man es mit vielen Einzelhinweisen für das rechte Verhalten zu tun, einen Schlüssel zur Lösung neuer Probleme hat man damit nicht immer in der Hand. Diese Schwäche des Konzepts war ja gerade der Grund, weshalb man nach dem Tode Mohammeds nach zusätzlichen Rechtsquellen Ausschau halten musste, weil mit dem Koran allein keine Antwort auf neu auftretende Fragen gegeben werden konnte. Erst die Hinzunahme weiterer Rechtsquellen wie Hadith und Sunna, Gelehrtenkonsens und Analogieschluss sowie manches Andere schufen die Basis für eine systematische Beantwortung neu auftauchender Fragen. Wer nur den Koran gelten lassen will, reproduziert also dieselbe Verlegenheit, wie sie schon einmal bestand und zur Entwicklung der Scharia geführt hat.  

Die Berufung auf die Scharia hat – wie gesagt – den Vorteil, dass damit ein System vorgelegt ist, das auf alle neu auftretenden Fragen Antwort geben kann und sich im Laufe der Jahrhunderte als flexibel genug erwiesen hat, um alle an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen, sieht man von der neuzeitlichen Auseinandersetzung mit der Moderne einmal ab. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt darin, dass hier – wie oben gesagt – Koranisches und Nichtkoranisches, ja Islamisches und Außerislamisches miteinander vermischt worden ist, während allein der Koran göttliche Offenbarung und folglich nur er für alle verbindlich ist.

Es versteht sich von selbst, dass die hier vorgestellten fünf Grundmodelle nur ein erstes Grobraster für die höchst facettenreich ablaufende innerislamische Diskussion um den zukünftigen Kurs der Religion ist. Doch reichen diese bereits aus, um die Vorstellung vom Islam als monolithischem Block grundsätzlich zu widerlegen.

Schluss

Die voraufgehenden Ausführungen haben gezeigt, dass der Islam heute alles andere als ein monolithischer Block ist. Dies gilt sowohl für die vielfältigen Richtungen unter den Schiiten (mit den Hauptrichtungen der Fünfer-, Siebener- und Zwölferschiiten) und die vier sunnitischen Rechtsschulen (Hanbaliten, Hanafiten, Malikiten und Schafiiten) als auch für moderne quer zu diesen verlaufende Ausrichtungen in der Auslegung der Religion wie der eines Mahmud Taha, eines Azmayesh, einer Unterscheidung zwischen zeitlich Bedingtem und ewig Gültigem im Koran, der Berufung auf den Koran als Ganzen und der Forderung nach Wiedereinführung der Scharia mit all den ihnen jeweils inhärenten Stärken und Schwächen. Es ist deshalb an der Zeit, sich von der Vorstellung eines einheitlichen, monolithischen Islam zu verabschieden und der innerislamischen Richtungsvielfalt größere Aufmerksamkeit zu widmen.

Prof. Peter Antes, Hannover in Hans-Georg Babke/Heiko Lamprecht (Hrsg.), braunschweiger beiträge zur religionspädagogik 147, 1/2016, 3-7 (ISSN 2195-8424) (zu beziehen über den ARPM Wolfenbüttel: www.arpm.de)

Dr. Seyed Azmayesh, "Neue Forschungen zum Koran - Wie und warum es zu zwei antagonistischen Islam Versionen gekommen ist", edition Karamat, gegen eine freiwillige Spende zu beziehen über koranbuch@remove-this.gmail.com.

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