Entstehung und Gründe für Fundamentalismus

Karamat.eu - Im Rahmen der Brückenarbeit des Vereins Karamat e.V. zu Orient und Okzident und der Zusammenarbeit mit Prof. Antes, veröffentlichen wir seinen Beitrag zu Fundamentalismus hier. Es handelt sich um einen Impulsvortrag vom 10.08.2017 für das Projekt Lessing.

Prof. Peter Antes

Karamat.eu - Die Rede vom "Fundamentalismus" ist heute sehr beliebt. Der recht griffige Begriff ist allerdings weniger präzise, wenn es um seinen Inhalt geht. Manche setzen Fundamentalismus mit dem Islam oder einigen Tendenzen innerhalb desselben gleich, andere sehen ihn im Christentum und im Islam und wieder andere sehen darin ein wesentlich breiter angelegtes Phänomen, das weder auf das Christentum noch auf den Islam beschränkt ist, sondern alle Religionen der Gegenwart sowie nicht religiöse Parteien und ideologische Gruppen meint. Deshalb geht es im Folgenden zunächst darum, Fundamentalismus begriffsgeschichtlich zu betrachten, danach eine inhaltliche Bestimmung vorzunehmen und dann nach den Ursachen zu fragen sowie Strategien zu seiner Identifizierung und Bekämpfung zu entwickeln. Ein Fazit fasst die Ergebnisse zusammen und leitet zum Materialteil über.

Fundamentalismus - eine Begriffsgeschichte

Die Rede vom Fundamentalismus ist heute weit verbreitet. Das war jedoch nicht immer so. Wer den Artikel "Fundamentalismus" in dem großen Nachschlagewerk "Theologische Realenzyklopädie" (TRE) liest, wird die interessante Feststellung machen, dass in dem 1983 erschienenen Band ausschließlich vom religiösen Fundamen­talismus im Sinne einer Ende des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannten antimoder­nistischen Richtung innerhalb des nordamerikanischen Protestantismus gesprochen wird. In der Heftreihe „The Fundamentals“ – daher die Bezeichnung „Fundamentalismus“ – wird die Moderne abgelehnt. Vor allem das naturwissenschaftliche Weltbild und die Abstammungslehre Darwins werden kritisiert, weil man am biblischen Schöpfungsbericht und der direkten Erschaffung des Menschen durch Gott (Kreationismus) festhalten und deshalb auch die Echtheit von den in der Bibel berichteten Wundern, einschließlich der Geburt Jesu von der Jungfrau Maria, im Gegensatz zur historisch-kritischen Exegese als Glaubenswahrheit aufrechterhalten wollte. Wer dagegen den Beitrag "Fundamentalismus" in der neuesten, dritten Auflage vom "Lexikon für Theologie und Kirche" (LThK) konsultiert, erfährt aus dem 1995 erschienenen Band, dass Fun­damentalismus eine gegen die Moderne gerichtete Tendenz ist, die in allen Religionen der Gegenwart anzutreffen ist, weshalb es nicht nur einen christlich-protestantischen, sondern auch einen katholischen, einen islamischen, einen jüdischen, einen hinduistischen und einen buddhistischen Fundamentalismus gibt.

Grundlegendes hat sich demnach innerhalb von nur 12 Jahren im Wortgebrauch verändert. Fundamentalismus hat einen Siegeszug angetreten und konkurrierende Begriffe praktisch aus dem Feld geschlagen. Dies gilt im katholischen Bereich der romanischen Länder, wo der Begriff heute die früher übliche Rede vom Integrismus vollständig ersetzt hat; dies gilt auch für den Islam, in dem man immer wieder fundamentalistische Tendenzen entdeckt, wenn man nicht wie die Muslime dafür den spezifischeren Begriff des Islamismus verwenden will. Es gilt schließlich auch für nicht religiöse politisch aktive Gruppen wie die Grünen, bei denen es seit den 1980er Jahren Fundis (= Fundamentalisten) und Realos (= zu Kompromissen bereite Realpolitiker) gibt.

Geht man der Entwicklung etwas nach, so lässt sich leicht feststellen, dass der Begriff Fundamentalismus für nicht protestantische Gruppen zum ersten Male in der westlichen politischen Literatur im Zusammenhang mit der islamischen Revolution in Iran, die mit der Machtergreifung durch Ayatollah Khomeiny anfangs 1979 dem Schahregime ein Ende gesetzt hat, von Journalisten verwendet wurde. Der Begriff wurde damals auf die schiitische Revolution übertragen und wollte andeuten, dass damit eine Absage an die vom Westen unterstützte Reformpolitik des Schah eingeleitet wurde, deren antimoderner Charakter vor allem in den antiwestlichen Äußerungen ihrer Protagonisten sowie in der Wiedereinführung der Verschleierung für Frauen gesehen wurde. Bald darauf wurde dieser Begriff dann auch auf die islamistische Bewegung des "Front Islamique du Salut" (FIS) in Algerien übertragen. Martin Riesebrodt hat in einer grundlegenden Studie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den iranischen Schiiten 1961-1979 und der patriarchalischen Protestbewegung amerikanischer Protestanten 1910-1928 untersucht und die Parallelen als Rechtfertigung für eine gemeinsame Bezeichnung beider als Fundamentalisten benutzt.[1] Weit schwieriger aber dürfte es sein, die Forderungen und Vorgehensweisen der iranischen Schiiten mit denen der Anhänger des FIS in Einklang zu bringen. Die einzig mögliche Klammer ist die Ablehnung der jeweils im Lande versuchten Wege der Modernisierung und damit verbunden ein Rückgriff auf die Religion als Lösung angesichts der bestehenden Krisen. Sowohl die konkreten Beschreibungen der Missstände als auch die Lösungsvorschläge wie die Methoden zur Durchsetzung derselben variieren dabei beträchtlich.

Die Variationsbreite nimmt noch zu, wenn Protestbewegungen anderer Religionen ebenfalls als fundamentalistisch charakterisiert werden. Solches ist beim Hinduismus und Buddhismus geschehen, ja ein amerikanisches Mammutprojekt hat unter Mitwirkung zahlreicher Wissenschaftler schließlich den Fundamentalismus weltweit in allen Religionen ausgemacht und behauptet, dass es in allen Religionen zwei Tendenzen gibt: eine modernisierende und eine antimoderne "fundamentalistische".[2] Wichtig ist festzuhalten, dass sich das Antimoderne meist nur auf die Gesellschaftsordnung und/oder die Wirtschaft bezieht, von Technikfeindschaft kann dabei keine Rede sein, wenn man bedenkt, dass sich die sogenannten Fundamentalisten der modernsten Techniken wie Satellitenfernsehen, Fax oder e-mail bedienen, um ihre Ideen weltweit zu verbreiten.

Schließlich ist noch zu erwähnen, dass die hier beobachtete Begriffserweiterung von einer ursprünglich religiösen Richtung innerhalb des amerikanischen Protestantismus auf antimoderne Gruppierungen in anderen Religionen nicht auf den religiösen Bereich beschränkt blieb. So entstand innerhalb der politischen Partei der Grünen in der alten Bundesrepublik die Unterscheidung in Fundis und Realos, was vielleicht damit zusammenhängt, dass nicht wenige evangelische Pastorinnen und Pastoren Mitglieder dieser Partei gewesen sind und vielfach bis heute dazu gehören.

Fundamentalismus – der Versuch einer inhaltlichen Bestimmung

Fundamentalismus ist in diesem erweiterten Wortsinn zu einem Sammelbegriff für alle Unzufriedenen geworden, die frustriert sind und sich ausgegrenzt fühlen und diese Erfahrung bzw. dieses Gefühl damit begründen, dass die gegenwärtige Welt aus den Fugen geraten sei, ungerecht die Güter verteilt seien und deshalb nur eine radikale Veränderung die Lösung darstellen könne.

Als Lösung bieten sich dabei entweder der Rückgriff auf Vergangenes oder der Vorgriff auf Zukünftiges an. Vorbilder für den Rückgriff sind dabei oft Modelle aus den Religionen, wenn beispielsweise im Christentum das christliche Abendland mit seinen Werten, im Islam die Sharia oder im Hinduismus die Werteordnung des klassischen Hinduismus mit seinem Kastensystem beschworen werden. Bezogen auf den Vorgriff spielen vor allem im politischen Bereich Vorstellungen von der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus oder Ideale eine Rolle, wie sie im Marxismus und Nationalsozialismus entworfen worden sind.

Entscheidend für all diese Lösungsangebote ist eine homogene Gesellschaft, die diese Werte teilt. Damit richtet sich der Fundamentalismus vornehmlich gegen den Pluralismus der Meinungen und eine entsprechende Kompromisssuche und verlangt von denen, die ihm folgen, ein kompromissloses Eintreten für die eigenen Werte, denn – so wird vielfach gesagt – das Übel der modernen Gesellschaft besteht in der plural strukturierten Gesellschaft. Zur Unterstreichung werden dann Parolen ausgegeben wie „Deutschland schafft sich ab“ (Thilo Sarrazin), Eintreten für das jüdisch-christliche Erbe, Verteidigung des christlichen Abendlandes etc. Die zuletzt genannten Begriffe dienen dabei vor allem zur Abgrenzung. Man spricht vom christlichen Abendland als Abgrenzung zum Islam, man spricht in Deutschland von „Menschen mit Migrationshintergrund“, um sie von den „echten Deutschen“ (neuerdings leider oft „Biodeutsche“ genannt) zu unterscheiden, man betont das Deutsch-Sein (vgl. AfD und „Was ist deutsch?“ in Teil 2), man fordert eine deutsche Leitkultur als Abgrenzung zu kulturell oder religiös bedingten anderen Verhaltensweisen (vgl. die Thesen von Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière über eine deutsche Leitkultur in Teil 2), man redet in Frankreich von der „laïcité“ als Abgrenzung gegenüber den traditionalistischen Muslimen, man ersetzt in Australien den Begriff des Asylbewerbers durch den des illegalen Einwanderers. Deshalb ist es wichtig, auf diese Wortschöpfungen sehr genau zu achten, um ihre wahre Abgrenzungsabsicht zu erkennen und zu thematisieren.

Die Verwirklichung einer im fundamentalistischen Sinne einheitlichen Gesellschaft kann durch Werbung zugunsten entsprechender Mehrheitsentscheidungen oder radikal durch weniger demokratische Methoden wie Revolten erfolgen.

Zielscheibe der Kritik und Diffamierung sind dabei immer die anderen: die Flüchtlinge, die Fremden, die Homosexuellen, die Lesbierinnen, die Nutznießer des Sozialsystems, die Reichen oder ethnische Gruppen wie die Sinti und Roma bzw. Menschen aus bestimmten Religionen wie die Juden, die Muslime, die Anhänger neuer religiöser Bewegungen (z.B. in den 1970er und 1990er Jahren Hare Krishna, Vereinigungskirche).

Ursachen

Bezüglich der Attraktivität fundamentalistischen Gedankengutes gibt es persönliche wie gesellschaftliche Gründe.

Als persönliche Gründe sind individuelle Frustrationen über Misserfolge oder das Gefühl zu nennen, nicht akzeptiert zu sein bzw. nicht dazuzugehören.

Gesellschaftlich ist das Erstarken des Fundamentalismus, vor allem des religiösen Fundamentalismus, wohl dadurch zu erklären, dass das bis in die 1980er Jahre bestehende alternative Wirtschaftssystem des Ostblocks entfallen ist. Wer in der Blütezeit des sogenannten Ost-West-Konfliktes mit der Entwicklung des Kapitalismus nicht einverstanden war und sich nach einem alternativen Wirtschaftssystem mit mehr Gerechtigkeit sehnte, fand dieses häufig im kommunistisch ausgerichteten Ostblock trotz berechtigter Kritik am real existierenden Sozialismus. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 ist diese politisch-ökonomische Alternative entfallen. Der Kapitalismus hat als einziger Sieger offenbar überlebt. Damit waren aber die Ungerechtigkeiten in der Welt wie Armut und Hunger nicht entfallen. Im Gegenteil, sie nahmen infolge der Globalisierung weiter zu, und vor allem viele Jugendliche sehen weltweit für sich – oft trotz ihrer guten Ausbildung – keine Zukunftschancen. Die damit verbundene moralische Anklage gegenüber dem sich immer wilder gebärdenden kapitalistischen System wird zunehmend durch religiöse – weit weniger durch politisch extrem links oder rechts stehende - Gruppen artikuliert, extremistische Positionen finden anscheinend immer mehr Anhänger. Die Rede ist z.B. von Hasspredigern in Moscheen und anderen Aufrührern, wie sie von Gilles Kepel[3] und Mark Juergensmeyer[4] beschrieben werden. Bezeichnend ist, dass viele in Afrika und Asien, die vorher Marxisten oder Sozialisten waren, heute im religiös fundamentalistischen Lager aktiv sind. Auf diese Weise ist vor allem der religiöse, aber auch der politische Fundamentalismus zu einer echten Bedrohung des westlich-kapitalistischen Wirtschaftssystems und des sozialen Friedens geworden, von der Terrorismusgefahr ganz zu schweigen.

Attraktiv ist die fundamentalistische Propaganda u.a. auch dadurch, dass sie in dieser immer komplexer werdenden Welt durch einfache Lösungsrezepte die bestehenden Missstände beseitigen will.

Strategien gegen den Fundamentalismus

Wichtig ist eine genaue Analyse des jeweils verwendeten Vokabulars, weil – wie gesagt – viele Begriffe vornehmlich Abgrenzungsbegriffe sind und dadurch mehr zur Konfrontation auffordern als zur Bereitschaft für Integration und Toleranz (vgl. Bildungsauftrag der Schule in Teil 2).

Gefährlich ist besonders die pauschale Zuordnung von Menschen zu Gruppen. Sudhir Kakar hat an einem Konflikt zwischen Hindus und Muslimen im indischen Hyderabad im Jahre 1990 gezeigt, dass es nur 24 Stunden brauchte, um den Konflikt zur Eskalation zu bringen. Möglich war dies, weil schon vorher die Menschen nicht mehr als individuelle Persönlichkeiten gesehen, sondern Stereotypen zugeordnet wurden nach dem Muster: „Schaut nur, was die Hindus machen!“ oder „Die Muslime haben wieder einmal die Grenzen überschritten!“[5] Wenn dann soziale, politische oder wirtschaftliche Spannungen auftreten bzw. wenn es zu ethnischen oder religiösen Auseinandersetzungen kommt, lässt sich dieses Gruppendenken leicht einsetzen und zur Eskalation bringen. Nichts ist nämlich mörderischer als derartige Identitäten.[6] Deshalb gilt es besonders wachsam zu sein, wenn in Talkshows nach dem Vorbild römischer Gladiatorenkämpfer Extremisten auf einander gehetzt werden und dazu beitragen, dass sich derartige Gruppenstereotypen im Hirn der Zuschauenden festsetzen.

Solche pauschalen Gruppenstereotype nehmen interne Debatten nicht zur Kenntnis. So ist beispielsweise der Islam kein monolithischer Block, sondern besteht aus vielen unterschiedlichen Richtungen (vgl. Der Islam – kein monolithischer Block in Teil 2), so dass nicht nur den einzelnen Muslimen durch die Zuordnung zu solchen Stereotypen Unrecht geschieht, sondern der Religionsgemeinschaft als solcher gleichermaßen. Die internen Debatten sind sehr wichtig, um Entwicklungen innerhalb der Religion zur Kenntnis zu nehmen, denn so richtig es ist, dass die Bibel wie der Koran zu Zeiten entstanden sind, als es noch keine Erklärung der Menschenrechte, keine Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz und keine Demokratie als Regierungsform gab, so sind viele in diesen Religionen nicht dabei stehen geblieben, sondern legen die Texte heute anders aus (vgl. Koranexegese in Teil 2) und bejahen vieles davon (vgl. Zentralrat der Muslime in Teil 2).

Ein Problem ist dabei, dass in vielen Ländern der Erde die Gruppe das Sagen hat, die Meinung des Einzelnen viel weniger gefragt ist (vgl. Arabische Zeitenwende in Teil 2). Mit Blick auf den Islam schreibt Fatema Mernissi: „Es dreht sich um sechs Schlüsselworte, die zwei Seiten ein und derselben Gleichung darstellen: dīn (Religion), i’tiqād (Glaube) und ţā’a (Gehorsam). Auf der anderen Seite haben wir: ra’y (persönliche Meinung), ihdāt (Erneuerung, Modernisierung) und ibdā’ (Schöpfung). Der Konflikt beruht auf der Tatsache, dass der zweite Pol über Jahrhunderte hinweg mit dem Zeichen des Negativen, des Subversiven versehen war. Auf der persönlichen Meinung zu beharren, bedeutet eine Schwächung des Palastes und der Macht der Gemeinschaft, die in den Händen des Kalifen konzentriert ist, und folglich das Spiel der Feinde zu spielen. Diese Angst vor der individuellen Meinung, die fähig sei, die Gruppe anfällig zu machen und dem Gegner in die Hände zu arbeiten, ist der emotionale Faden, der von all denen ausgenutzt wird, die den demokratischen Prozeß blockieren wollen.“[7] Bezüglich Afrikas kann man bei dem christlichen Theologen John S. Mbiti lesen: „Wie Gott den ersten Menschen als Menschen Gottes erschuf, so bildet nun der Mensch selber den Menschen zum Gemeinschaftswesen um. Dies ist eine zutiefst religiöse Handlung. Der einzelne wird sich nur im Hinblick auf andere Menschen seiner Eigenart, seiner Pflichten, Vorrechte und Verantwortlichkeiten sich selbst und anderen gegenüber bewußt. Wenn er leidet, so leidet er nicht allein, sondern mit der Gruppe, der er angehört; wenn er sich freut, so freut er sich nicht allein, sondern mit seinen Artgenossen, Nachbarn und Verwandten, ob diese nun tot oder noch am Leben sind. Wenn er heiratet, so steht er nicht allein, und auch seine Frau ‚gehört’ nicht ihm allein. Im gleichen Sinne gehören seine Kinder der Gemeinschaft, mögen sie auch nur den Namen des Vaters tragen. Was immer dem einzelnen widerfährt, geht die ganze Gruppe an, und was der ganzen Gruppe widerfährt, ist ebenso Sache des einzelnen. Das Individuum kann nur sagen: ‚Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich’. Dies ist einer der Kernpunkte in unserem Verständnis des afrikanischen Menschenbildes.“[8] Ein „hier stehe ich, ich kann nicht anders“ gilt in diesem Denken als Ungehorsam und ist illoyal gegenüber der Gemeinschaft.

Zu den Strategien gegenüber fundamentalistischer Wirtschafts- und Weltpolitik muss auch gehören, dass man die tatsächlich bestehenden Missstände nicht negiert,sondern anprangert, um ihre Opfer nicht in die Fänge fundamentalistischer Gruppen zu treiben. Im Unterschied zu diesen Gruppen muss aber der Einsatz zur Beseitigung von Missständen rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die unverblümt offene Kritik an Fehlformen des Kapitalismus in der Enzyklika „Centesimus Annus“[9] (insbesondere Nr. 33-42) von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahre 1991 und dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“[10] (insbesondere Nr. 53-60) von Papst Franziskus aus dem Jahre 2013.

Schließlich kann auch manches konkrete politische Handeln zu einer ernsthaften Krise für eine fundamentalistische Ideologie werden. So etwa schreibt Nicolas Hénin, der 10 Monate als Geisel die Haft im Islamischen Staat (IS) überlebt hat, im Nachtrag zur deutschen Ausgabe seines Buches über den IS[11], dass das Kalifat bzw. der IS gegründet wurde als „ein erträumter Staat, der dazu ausersehen ist, den Moslems zu ermöglichen, ihren Glauben ohne Einschränkung in einer von unmoralischen Versuchungen freien Umgebung zu leben und weit weg von jeglicher Schikane ihren Stolz wiederzufinden.“ (S. 202) Die Flüchtlingskrise wird deshalb auch zur Krise für den IS. „Hunderttausende, fast alle Moslems, verlassen dieses erträumte gelobte Land und suchen Schutz bei den Ungläubigen. Und sie werden überdies noch, vor allem in Deutschland und einigen nordeuropäischen Ländern, mit Hochrufen und Solidaritätsbekundungen empfangen. Diese Entwicklung erschüttert das Narrativ, auf dem das Kalifat errichtet wurde. Der Islamische Staat hat aber ein vitales Interesse daran, den Flüchtlingsstrom zu stören, Europa dazu zu drängen, seine Grenzen zu schließen und in der öffentlichen Meinung Zweifel zu säen, um der Solidaritätswelle entgegenzuwirken.“ (S. 202) Der Nachtrag schließt mit den Worten: „Die Dschihadisten beabsichtigen, zwischen den Flüchtlingen und unseren Gesellschaften eine Kluft entstehen zu lassen. Gönnen wir ihnen nicht diesen Erfolg, indem wir dem Druck der Populisten und ihrem Sicherheitsgerede nachgeben. Die Flüchtlinge sind im Gegenteil unsere wichtigsten Verbündeten, wenn es darum geht, unsere Jugendlichen davon abzuhalten, sich in das Abenteuer des Dschihad zu stürzen.“ (S. 204)

Fazit

Als Fundamentalismus wurde ursprünglich eine gegen die moderne Wissenschaft und Theologie gerichtete protestantische Bewegung bezeichnet, die Ende des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA entstanden und bis heute aktiv ist. In den 1980er Jahren wurde dann der Begriff zur Kennzeichnung von Strömungen in anderen Religionen verwendet, die das westlich-kapitalistische System als ungerecht ablehnen, weil es viele Menschen ausgrenzt. Auch Gruppierungen innerhalb politischer Richtungen, die dem Kapitalismus äußerst kritisch gegenüberstehen, verwendeten für sich selbst diese Bezeichnung, um ihren kompromisslosen Einsatz zur Änderung der Verhältnisse zu unterstreichen. Dadurch wurde Fundamentalismus zum Sammelbegriff des Protestes mit wenig inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Gruppen.

Die Kritik war besonders attraktiv, nachdem das bis Ende der 1980er Jahre bestehende alternative Wirtschaftssystems des Ostblocks weggefallen war und der westliche Kapitalismus als einzig siegreiches System überlebte. Da es Armut und Ausgrenzung aber nach wie vor noch gab, richteten sich die Hoffnungen vieler auf religiöse Modelle für eine gerechtere Welt. Deshalb wurden fundamentalistische Bewegungen zu einer ernsten Bedrohung für das bestehende Wirtschaftssystem und die gegenwärtige Weltordnung. Attraktiv sind diese Angebote u.a. deshalb, weil sie in einer immer komplexer werdenden Welt durch einfache Lösungsrezepte die Beseitigung aller Missstände versprechen. 

Wer die fundamentalistische Propaganda in ihrer Gefährlichkeit entlarven will, muss das von ihr verwendete Vokabular auf seine Abgrenzungsabsichten hin genau analysieren und fragen, warum Gruppenstereotype geschaffen werden, die sich leicht manipulieren und zur Eskalation bringen lassen, wenn Krisensituationen auftreten. Dem Denken in Gruppenstereotypen kann nur der Verweis auf die in jeder Religion bestehende Richtungsvielfalt entgegenwirken. Das schließt die Anerkennung bestehender Missstände nicht aus, verlangt aber, sie mit rechtsstaatlichen Mitteln in Kooperation mit anderen zu beseitigen und nicht im Rückgriff auf die eigenen Lösungsmodelle eine Vereinheitlichung der Gesellschaft gegen alle anderen durchsetzen zu wollen, komme, was wolle.  


Artikel    [1] Vgl. dazu Martin Riese­brodt. Fundamen­talismus als patriarchalische Pro­testbe­wegung: Ameri­ka­ni­sche Pro­testanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich. Tübingen: Mohr 1990

Artikel    [2] Vgl. dazu Marty, Martin E. und R. Scott Appleby (Hrsg.): The Glory and the Power: The Fundamentalist Challenge to the Modern World. Boston, Mass.: Beacon Press 1992; dies.: Fundamentalisms Observed. Chicago-London: The University of Chicago Press 1991 (The Fundamentalism Project, vol. 1); dies.: Fundamentalisms and Society: Reclai­ming the Sciences, the Family, and Education. Chicago-London: The University of Chicago Press 1993 (The Fundamentalism Project, vol. 2); dies.: Fundamentalisms and the State: Remaking Policies, Economics, and Militance. Chicago-London: The University of Chicago Press 1993 (The Fundamentalism Project, vol. 3); dies.: Accounting for Fundamentalisms: The Dynamic Character of Movements. Chicago-London: The University of Chicago Press 1994 (The Fundamentalism Project, vol. 4); dies.: Fundamentalisms Comprehended. Chicago-London: The University of Chicago Press 1996 (The Fundamentalism Project, vol. 5); Thomas Meyer (Hrsg.). Fundamentalismus in der modernen Welt: Die Internationale der Unver­nunft. Frankfurt/M: Suhrkamp 1989; Thomas Meyer: Fundamentalismus: Aufstand gegen die Moderne. Reinbek: Rowohlt 1989

[3]  Gilles Kepel: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München [u.a.]: Piper, 3. Aufl. 1994

[4]  Mark Juergensmeyer: Die Globalisierung religiöser Gewalt, von christlichen Milizen bis al-Qaida, Hamburg: Hamburger Ed. 2009

[5] Sudhir Kakar: Psychologische Mechanismen religiöser Gewalt, in Ina Wunn und Beate Schneider (Hrsg.): Das Gewaltpotenzial der Religionen, Stuttgart: W. Kohlhammer 2015 S. 203-213, hier S. 210

[6]  Vgl. dazu Amin Maalouf: Mörderische Identitäten, Frankfurt/M: Suhrkamp 2000

[7]  Fatema Mernissi: Die Angst vor der Moderne. Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie, Hamburg-Zürich: Luchterhand Literaturverl. 1992 S. 59

[8] John S. Mbiti: Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin-New York: Walter de Gruyter 1974 S. 136

[9]http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_01051991_centesimus-annus.html (aufgerufen am 12.8.2017)

[10]http://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html (aufgerufen am 12.8.2017)

[11] Nicolas Hénin: Der IS und die Fehler des Westens. Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können, Zürich: Orell Füssli Verlag, 2. Aufl. 2016

© Prof. Dr. Dr. Peter Antes, Hannover

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