Der Koran – Zeit für Paradigmenwechsel im Islam?

Karamat.eu - Aufzeichnung einer Veranstaltung mit Dr. Seyed M. Azmayesh, Prof. Bobzin, Prof. Tamer und Prof. Hajatpour an der Universität Erlangen, organisiert in Kooperation mit Karamat e.V. aus Hannover.

Karamat.eu - Der französisch-iranische Religionswissenschaftler und Mystiker, Dr. Seyed Mostafa Azmayesh, hat auf dieser Veranstaltung seine Sicht auf den Koran als Quelle von Toleranz und Respekt gegenüber Vielfalt und Verschiedenheit dargelegt. Er erklärte, welche Prinzipien und Werte dazu geführt haben, dass sich mehrere Lesarten des Korans entwickelt haben, die sich heute fundamental voneinander unterscheiden. Anschließend haben Vertreter der Erlanger Islamforschung mit dem Autor seine Thesen kritisch diskutiert.

Hinter diesem Link findet sich die Aufzeichnung in verschiedenen Auflösungsqualitäten: https://www.video.uni-erlangen.de/clip/id/8084.html

Ansprache von Prof. Georges Tamer, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen

"Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentinnen und Studenten, sehr verehrte Damen und Herren, es ist mir eine große Freude heute Abend Sie und Euch alle zu dieser Podiumsdiskussion begrüßen zu dürfen. Ganz besonders möchte ich unseren Gast Seyed Mostafa Azmayesh und seine Begleiter willkommen heißen. Herr Dr. Azmayesh wird in wenigen Minuten mit seinem Vortrag beginnen, in dem er seine Interpretation der Fundamente und der frühen Entwicklung des Islams darlegt. Zentral ist dabei die Einsicht, dass von Beginn an dem Islam die Vielfalt innewohnt. Azmayesh zu Folge gab es schon ursprünglich zwei Versionen des Islams, die sich im Koran zum Ausdruck bringen. Eine innere Zweiheit also im Koran, die zur Diskursivität anregt, ja sogar auf Diskursivität im Ursprung beruht.

Ein solches Bild vom Koran und vom Ursprung des Islams steht selbstverständlich im diametralen Widerspruch sowohl zum fundamentalistischen Islambild, als auch zu gängigen Vorstellungen des Islams in unserer Gesellschaft. Der Koran hermeneutische Ansatz von Dr. Azmayesh kann deswegen als Einladung verstanden werden, die Vielfalt im Koran und im Islam - sei damit die Theologie, die historische Entwicklung oder die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexte, in denen Muslime leben, gemeint. Ich möchte ihnen nun kurz unseren Gast vorstellen: Seyed Mostafa Azmayesh ist 1952 in Teheran geboren worden. Er ist ein französisch-iranischer Religionsgelehrter und ein Sufi. An der Universität Teheran schloss er 1974 ein Studium der Rechtswissenschaften ab und 1975 ein Literaturstudium ab. Danach wanderte er nach Frankreich aus, um 1976 seine Studien in Paris fortzusetzen, unter anderem an der Sorbonne, dann an der Pantheon-Fakultät und vergleichende Studien Islam und Christentum an der Universität Lyon.

Er gehört als Sufi Meister dem Nematollah Gonabadi Orden an, dem bekanntesten und ursprünglichsten Sufi-Orden an. Nachdem der Oberste religiöse Führer der Islamischen Republik Iran, Ali Khamenei, 2010 bei seiner Reise nach Qom, Sunniten, Baha'i, neue Christen und Sufi als Feinde des Regimes klassifizierte, gründete Dr. Azmayesh mit Hilfe europäischer Unterstützer und Exilanten die Internationale Organisation zum Schutz der Menschenrechte im Iran. Sein Hauptforschungsfeld besteht in Studien über die Geschichte und das Wesen des Islams und des Christentums. Weiterhin ist er ein gefragter Referent bei Kongressen weltweit zum Thema Sufismus und vor allem zu den großen Mystikern. Vom Sufismus geprägt, begründet er seine Menschenrechtsarbeit auf der Forderung nach Toleranz, die bereits bei den großen Mystikern der arabischen und persischen Welt als zentrale Prämisse an ein gelingendes Gesellschaftsleben niedergelegt war."

Prof. Dr. Reza Hajatpour, Professor für systematische Theologie am Departement Islamisch-Religiöse Studien der Friedrich-Alexander Universität in Erlangen:

"Vielen herzlichen Dank für Ihren Vortrag. Die Thesen fand ich sehr interessant, auch sehr vage, da ich kein Koran-Experte bin. Herr Bobzin hat bereits die wichtigsten Punkte genannt, daher möchte ich nichts hinzufügen. So wie wir im Studium gelernt haben, wurde der Koran erst später gesammelt und nicht in der Zeit des Propheten Mohammed. Das müssen und können nur die Historiker betrachten bzw. beurteilen, ob die Aussagen von Herrn Azmayesh stimmen oder nur das stimmt, was wir bisher bei den Orientalisten gelernt haben. Dies ist ein Aspekt. Auch die historische Person Mohammed betreffend, ob er ein gebildeter Mann war oder nicht, muss letzten Endes historisch beurteilt werden.

Der Koran bzw. die Auslegung dessen im Sinne von Mudschtahed (religiöser Gelehrter mit hoher Befähigung) Schabastari besagt, dass der Koran ein Text ist, vor allem ein von Gott inspirierter Text, der von den Erfahrungen des Propheten Mohammed berichtet, das heißt von dessen Gedanken, Visionen und Erfahrungen, so wie er diese empfangen hat und nicht direkt Gottes Wort, wie wir das traditionell zu verstehen haben. Dies ist der zweite Aspekt, den auch die Historiker klären müssen und ich bin kein Historiker. Daher möchte ich dazu kein Urteil abgeben. Meine Aufgabe an dieser Stelle ist es, über die innere Entwicklung des menschlichen Wesens zu reflektieren, konkret geht es um den spirituellen Zugang zum Koran. Und nun müssen wir uns fragen, was ist das für eine Textsorte? Ein Prosatext, ein poetischer Text, ein literarischer Text, ein historischer Text, eine Erzählung, ein Gebet bzw. wir können ihn auch als spirituellen Text verstehen? Handelt es sich gar um eine Geschichte? Das Charakteristikum dieses Textes sollte zunächst einmal geklärt werden, also was wir von diesem Text konkret erwarten. 

Ähnliches kennen wir ja von einem gewissen Soziologen und Islamexperten, nämlich Dr. Ali Shariati, der ebenso von zwei Versionen des Schiismus spricht. Eine Version ist die alavitische Schia – diese bezieht sich auf Ali, den ersten Imam und seinen Islam - die zweite Version ist die safavidische Schia – diese bezieht sich auf die safavidische Zeit. Shariati zufolge ist die safavidische Schia eine von den Theologen angepasste Schia. Der ursprüngliche Islam ist genau das Herz des Islams bzw. die wahre Botschaft des Islams von Ali ibn Talib. 
Ich habe ja in meinem Buch "Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus" geäußert, dass der politische Islam – übrigens auch ein Thema für sich - erst in der Zeit von Medina entstanden ist und nicht in der mekkanischen Zeit. In der mekkanischen Zeit stand der Monotheismus im Vordergrund, der Glaube an einen einzigen Gott. Ferner ging es auch um die Eschatologie, „wer ist der Richter im Jenseits, also Gott selbst alleine“... viele Themen entstanden um diese Zeit herum...die politischen, die gesellschaftlichen, die sozialen Fragen wurden erst in der Medinensischen Zeit hervorgebracht. Denn zu jener Zeit wurde nämlich eine Gemeinde gebildet und eine Gemeinde braucht zwingend Ordnung. Aber hierbei muss es sich nicht zwangsläufig um Gottes Wort handeln und an dieser Stelle müssen wir aufpassen, dass, wenn Mohammed als Staatsmann auftritt, er nicht die Funktion eines Propheten innehat - und eben dies müssen wir Muslime auch verinnerlichen, denn hierbei handelt es sich um verschiedene Positionen, die wir zwangsläufig auseinanderhalten müssen. 
Mich interessiert die innere Entwicklung des Menschen und das sagt Herr Azmayesh treffend, dass es sich beim Islam um eine Herz-Heilung handelt. Das finde ich sehr schön formuliert, und zwar gleichermaßen, wenn man von Krankheit – also persisch maraz oder mariz - nicht als Krankheit bezeichnet, sondern Menschen als Mängelwesen ansieht bzw. unvollständige Wesen, die nach das Ganzheitlichkeit, Vollendung des eigenen Wesens streben.

In meiner Habilitation geht es um die Perfektabilität und um das gerade angesprochene Thema: Der Mensch ist in einem Prozess, beteiligt sich an seinem eigenen Prozess und vollendet sich selbst, das heißt alles, was er tut, ist gemäß seines eigenen Willens, seiner eigene Macht, und hat eine eigene Bedeutung.

Diesbezüglich möchte ich ihnen auch vor allem einen Text vorlesen und damit möchte ich mein Statement auch beenden. Hier geht es um den spirituellen Zugang zum Islam und zur Theologie. Ich betrachte die meisten Werke von Scheich Dschunaid – im Vergleich zu anderen Mystikern – als eine mystische Theologie, die damals zwar nicht so genannt wurde, jedoch einen spirituellen Zugang zu Glaubensinhalten innehat, das heißt es gibt nicht nur die spekulative Theologie, die man kalam nennt, sondern auch die Mystik als eine Form der Theologie. Das ist ein anderer Aspekt, ein Zugang zu Glaubensinhalten,  eine Sinnerweiterung zu Glaubensinhalten, eine Ergänzung - und da beziehe ich mich auf eine der Aussagen von Mohammed, welche auch ein bekannter Mystiker, nämlich Aziz ad-Din Nasafi zitiert und interpretiert: "Wisse, Gott möge dich ehren in beiden Welten, die Scharia ist das Wort des Propheten, der mystische Weg (tariqa) ist die Handlung des Propheten und die Wahrheit (haqiqa) ist die Schau des Propheten. Scharia sind meine Worte, sagt der Prophet, der Weg (tariqa) sind meine Handlungen und haqiqa sind meine Zustände. Der Novize, also der Schüler, muss das, was die Wissenschaft der Scharia erfordert, lernen/studieren, auch die spirituelle Lebensweise, also die Handlungen, die notwendig sind, zur Erfüllung bringen, damit sich ihm das Licht der Wahrheit zuwendet entsprechend seinem Bemühen. Ein Derwisch ist, sagt Nasafi, wer sprechend akzeptiert, was der Prophet sagt, ist also Anhänger der Scharia. Wer danach handelt, was sein Prophet getan hat, ist Anhänger des mystischen Weges, also Ahl-e tariqa. Wer sieht, was sein Prophet gesehen hat, ist ein Anhänger der Wahrheit (Ahl-e haqiqa). Wer alle drei Wege vefolgt, hat drei, wer zwei hat, hat zwei, wer eins hat, hat eins."  

Ergo: Die mystische Deutung des Islams ist im Grunde eine Überwindung der Scharia, eine höhere Stufe, in der diese Ganzheit vollendet wird, in der der Mensch zu einem vollständigen Menschen wird."

 

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